Seine Ohren waren fein eingestimmte Instrumente. Das waren sie schon immer gewesen. Christopher konnte jedes noch so kleine Geräusch hören und unterscheiden, sogar das Flüstern einer Ameise aus einem Kilometer Entfernung. Zumindest fühlte es sich für ihn so an. Kein Wunder, dass er laute Geräusche nicht ausstehen konnte. Sie taten seinen Ohren und seinem Gehirn weh und machten ihm das Leben zur Hölle.
Und Lärm war überall. Christopher wachte nachts auf, wenn seine Nachbarn von Partys nach Hause kamen, laufender Diesel, Schreie, Gelächter, krachende Autotüren – und er hatte Mordgedanken.
Wenn er versuchte, zu schreiben, machten ihn die Waschmaschine und das Geplapper seiner Putzfrau wahnsinnig. Der Staubsauger saugte ihm jegliche Kreativität aus der Seele. Er wollte sich umbringen.
Seine Kinder waren magische Wesen, die vor Lebensfreude übersprühten – und ihre wunderbaren Entdeckungen nicht teilen konnten, ohne aus ganzer Lunge zu schreien, und das aus einer Entfernung von nur wenigen Zentimetern.
Christopher schlief mit seiner Frau, aber je erregter sie wurde, desto mehr Lärm machte sie – bis ihre Lustschreie im Moment des Höhepunkts in seinen Ohren gellten. Er war bereit, das zu tolerieren.
Insgeheim fantasierte er davon, seine Frau zu S&M zu überreden – damit er ihr Handschellen anlegen und ihr einen schwarzen Gummiball in den Mund stopfen konnte, um sie zu knebeln. Nicht zum sexuellen Vergnügen, sondern um sie zum Schweigen zu bringen.
Er fühlte sich schuldig, weil er solche Gedanken hatte. Genau so wie er sich schuldig fühlte, wegen seiner Reaktion auf seine Kinder. Die Kleinen stürmten regelmäßig mit spitzen Freudenschreien auf ihn zu – und er wich voller Horror zurück. Der Gedanke dass andere genau den gleichen Schmerz wie er empfinden könnten, kam ihm nie in den Sinn. Hätte er seine Symptome gegoogelt, wäre er auf den Begriff “Hyperakusis” gestoßen. Er war krank, doch stattdessen glaubte er, was andere ihm oft bestätigten: Dass er ein Arschloch sei, weil er seine Mitmenschen nicht ertragen konnte.
Christopher suchte Zuflucht in den tiefsten Wäldern. Er sehnte sich nach Ruhe in der Schweigsamkeit und dem gedämpften Licht unter den Bäumen. Doch unweigerlich warf jemand seine Motorsäge an, um damit seine Seele zu zerschneiden. Selbst wenn das nicht geschah: Es gab immer Vögel, die fröhlich zwitscherten.
Eines Tages chattete seine Frau über WhatsApp mit ihrer Mutter, während sie die Spülmaschine einräumte. Unten auf der Straße fuhr ein Lieferwagen rückwärts, und zwei Nachbarn begannen einen aufgeregten Streit über die Kinderwagen im Hausflur. Christopher‘s Blutdruck schoss in die Höhe, die Geräusche um ihn herum wurden verzerrt und…